„Du flüchtest aus dem kleinen Gefängnis ins große Gefängnis DDR“
So beschreibt Ingo Hasselbach, der mit seiner Frau Nadja Klier die Reise nach Rottweil ans Albertus -Magnus-Gymnasium antrat, um den Klassen 10 von Jugend und Leben in der DDR zu erzählen, die Sinnlosigkeit einer Flucht aus einem Stasi-Gefängnis.
Nadja Klier, geboren 1973, und Ingo Hasselbach, geboren 1967, wuchsen zwar beide in der DDR auf, aber haben beide Geschichten, die sehr voneinander abweichen. Nadja Klier wuchs in einem Umfeld auf, das konstant Kritik an der DDR übte. Ihre Mutter, die Bürgerrechtlerin Freya Klier, war Theaterschauspielerin und Regisseurin. Sie kritisierte die DDR in ihren Theaterstücken; und ihr Mann, der Liedermacher Stephan Krawczyk, äußerte Kritik in seinen Liedtexten. In der Schule wurde damals das Fach „Staatsbürgerkunde“ unterrichtet, das Nadja nicht nur hasste, sondern durch ihre vielen kritischen Fragen laut den Lehrern „störte“. Freya Klier und Stephan Krawczyk erhielten Berufsverbot, wurden durch die Stasi vielfältig drangsaliert und bedroht, im Januar 1988 letztendlich verhaftet und im Februar desselben Jahres mit Nadja ausgebürgert. Nadja Klier war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt, circa so alt wie die Schülerinnen und Schüler der Klassen 10, und verlor auf einen Schlag alles: das Zuhause den Freundeskreis und ihre engste Freundin Anna. Sie wuchs in West-Berlin bei ihrem Vater, Gottfried Klier, auf und fand erst 30 Jahre später durch die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit, als sie ihr Buch „1988 – Wilde Jugend“ schrieb, heraus, dass es unzählige Stasi-Akten gibt, die auch sie direkt betreffen.
Ingo Hasselbach erzählte uns eine komplett andere Geschichte. Seine Eltern, zwei Journalisten, waren sehr systemtreu. Er dagegen fühlte sich schnell, schon als Jungpionier, eingeengt und strebte nach Individualismus. Deshalb wurde er in seiner Jugend Punk. Früh war ihm klar, dass der Staat deshalb seine Schullaufbahn ausbremste: Als berufliche Option bot ihm die DDR an, Maurer oder Gleisbauer zu werden, Abitur und Studium standen ihm nicht offen. Der Staat stellte Jugendliche wie Hasselbach aufs Abstellgleis, einer weiteren Bildung „nicht würdig“. Punks wurden von der Stasi als „potenzielle Störer des Friedens“ angesehen und hochkriminalisiert. Sie bekamen eine politische Identität übergestülpt, die so laut Hasselbach nicht existierte. In dieser Zeit verstanden sich die Punks nicht als politisch. Hasselbach sagte, vier Verhaftungen in einer Woche seien normal gewesen. Auf demütigende Weise wurden die Jugendlichen bei diesen Verhaftungen „entlaust“, verhört und ohne ihre Habseligkeiten wieder auf die Straße gesetzt. Nach dem Ausruf „Die Mauer muss weg“ auf einem Fest der „deutsch-sowjetischen Freundschaft“ wurden er und sein Freund Henri 1985 wegen „Rowdytums“ zu mehreren Monaten Haft verurteilt. Seine Frau kommentiert das so: „Was nicht in den Kram passt, wird weggesperrt“. Als beide wieder auf freiem Fuß waren, unternahmen sie einen Fluchtversuch. Dieser scheiterte und sie wurden in Dresden erneut inhaftiert. Das Urteil lautete jetzt: drei Jahre Haft. Diese musste Hasselbach in Gänze absitzen. In seiner Haft wurde er etwa 30 mal verlegt, des Öfteren aus Schikane genau dann, wenn Besuch anstand. So reiste die Mutter an, um dann zu erfahre, dass ihr Sohn verlegt worden sei. Die Haftumstände, insbesondere die Einzelhaft beschreibt Hasselbach als ein „Zermürben der Inhaftierten“. In einem der Gefängnisse lernte er die NS-Kriegsverbrecher Heinz Barth, den Verantwortlichen des Massakers von Oradour-sur-Glane, und Henry Schmidt, Organisator der Deportation der Dresdner Juden, kennen. Hasselbach und die beiden Alt-Nazis verband eins: der Hass auf den Staat. So radikalisierte er sich im Gefängnis. Kurz vor dem Mauerfall gelang ihm mit dem Ausweis des Bruders – einen eigenen hatte er nicht mehr, er war ihm nach der Haftentlassung mit der Begründung, er werde eh wieder verhaftet, vorenthalten worden – die Flucht über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik. Unterstützt von der westdeutschen Neo-Naziszene wird er Begründer der ersten rechtsradikalen Partei der noch bestehenden DDR. Unter dem Eindruck des Brandanschlags von Mölln 1992, bei dem drei Menschen ums Leben kamen, stieg er aus der Szene aus und gründete im Jahre 2000 die Organisation „Exit“, die Aussteigern aus der Neo-Nazi Szene Unterstützung bietet. Bis heute erreichen ihn wegen seines Ausstiegs Drohungen, weshalb er zum Beispiel eine geschützte Adresse hat.
Das Fragenstellen fiel den Schülerinnen und Schülern leicht, da die beiden Referenten von Anfang an einen sehr offenen, aufgeschlossenen und sympathischen Eindruck vermittelten. Gelacht wurde trotz der Ernsthaftigkeit des Themas viel.
Auf die Frage „Warum erzählt ihr eure Biografie immer wieder angesichts der extremen Auseinandersetzung mit eurer Vergangenheit?“ antwortete Ingo Hasselbach, dass es für ihn eine Notwendigkeit sei, immer wieder davon zu erzählen, damit die Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät. Nadja Klier hat sich zwar erst 20 Jahre später mit ihrem Lebenslauf befasst, stimmt ihrem Mann jedoch voll und ganz zu. Sie sagt außerdem: „Wenn wir kommen und euch live von uns und unseren Erlebnissen erzählen, ist das für euch ja viel spannender und interessanter, als wenn ihr das in einem Schulbuch lest.“ Nadja tritt so in die Fußstapfen ihrer Mutter Freya Klier, welche die Jahre zuvor auch wiederholt ans Albertus -Magnus -Gymnasium kam, um von ihrem Leben zu erzählen.
Vielen Dank an Nadja Klier, Ingo Hasselbach, Frau Gerhardt und die Konrad-Adenauer-Stiftung, die uns diesen aufregenden und spannenden Tag möglich machten.
Verfasserinnen: Emma Biber und Jasmin Schneider, Klasse 10b