Der Säulengang des Albertus-Magnus-Gymnasiums diente als Gedenkstätte für die im Ersten Weltkrieg (1914-1918) gefallenen Lehrer und Schüler. In den einzelnen Säulen sind die Schlachtorte und Namen der Gefallenen eingemeißelt. Die Nationalsozialisten instrumentalisierten das Andenken und nutzten dieses zur Indoktrination der Bevölkerung.
Die hier verbliebenen Zeilen sind Teile des sogenannten Horst-Wessel-Liedes, das während der NS-Diktatur zusätzlich zum Deutschlandlied wie eine zweite Nationalhymne bei offiziellen Anlässen gesungen wurde.
Verfasst wurde der Text vermutlich 1927 vom Nationalsozialisten Horst Wessel (1907-1930) als Kampflied der Sturmabteilung (SA). Es ist nicht bekannt, warum nach Kriegsende 1945 nur einzelne Zeilen im Zuge der Entnazifizierung herausgemeißelt wurden und Teile stehen blieben.
Die Melodie stellt keine eigene Komposition dar. Horst Wessel übernimmt sie von älteren volkstümlichen Liedern. Sie ist so eingängig, dass sie stark zur Bekanntheit und Verinnerlichung des Liedes beiträgt. Form und Inhalt des Liedes sind überwiegend stimmig, auffallend ist eine ausgeprägte Fahnen- und Kampfmetaphorik, wie es auch für andere NS-Lieder typisch ist. Als Hauptgegner werden die Kommunisten genauso wie konservative und nationale bürgerliche Kreise genannt („Rotfront und Reaktion“).
In den weiteren Strophen des Horst-Wessel-Liedes erfolgt ein Aufruf an die Kämpfer zur Sammlung und Rüstung vor einer letzten, entscheidenden Schlacht. Sie werden darauf eingestimmt und der nahe Sieg wird prophezeit. Durch den Vers „der Tag der Freiheit und für Brot bricht an“ am Ende der zweiten Strophe werden die Revision des Versailler Vertrags und ein erhöhter Lebensstandard versprochen. Der Text und die Melodie weisen sowohl aggressive als auch sentimentale Elemente auf.
Nach der Veröffentlichung des Liedes 1929 wird es häufiger von Berliner SA-Einheiten gesungen. Deutschlandweite Bekanntheit erlangt es nach der Ermordung Horst Wessels durch den Kommunisten Albrecht Höhler. Grund für die Ermordung sind neben politischen Motiven vor allem persönliche Streitigkeiten, dennoch wird der Tod Horst Wessels von der NS-Propaganda stark instrumentalisiert und Horst Wessel zum Märtyrer der NS-Bewegung stilisiert. In diesem Zusammenhang wird das von ihm verfasste Lied am 1. März 1930, am Tag der Beerdigung Horst Wessels, auf der ersten Seite des „Völkischen Beobachters“ unter der Überschrift „Horst Wessels Gruß an das kommende Deutschland“ abgedruckt. Infolgedessen verbreitet sich das Lied und wird seit 1933 in den Schulen und Jugendorganisationen der NSDAP gesungen.
„Es musste bereits in der Grundschule von allen Schülern mit ausgestrecktem Arm gesungen werden, wobei die wenigsten die Bedeutung des Textes verstanden.“ So die Erklärung der Zeitzeugin und früheren AMG-Lehrerin Dr. Augusta Hönle.
Die einprägsame Wirkung und die ständige Präsenz des Liedes wird auch bei einer Aussage des Zeitzeugen und früheren AMG-Lehrers Dietrich Raff offensichtlich: „Das Lied, das war Alltag. Obwohl die Nationalsozialisten den Schutz des Liedes erstrebten, wurde es während und auch nach der NS-Zeit mehrfach parodiert.“
Horst Ludwig Georg Erich Wessel wird am 9. Oktober 1907 in Bielefeld als Sohn des protestantischen Pfarrers Dr. Wilhelm Ludwig Georg Wessel und der Pfarrerstochter Bertha Luise Margarete Richter geboren. Sein Vater ist ein ehrgeiziger, nationalistisch und militaristisch eingestellter Prediger, der sich der Kriegsrhetorik bedient. Er beeinflusst schon früh seinen Sohn Horst und trägt dazu bei, dass sich sowohl Horst als auch sein jüngerer Bruder Werner dem politischen Radikalismus der nationalen Rechten zuwenden.
Bereits während seiner Schulzeit ist Horst Wessel Mitglied verschiedener deutschnationaler und rechtsradikaler Bünde wie zum Beispiel der Bismarckjugend und dem Wiking-Bund und absolviert eine geheime paramilitärische Ausbildung. Prägend für Horst Wessel ist der frühe Tod seines Vaters 1922 und dessen Beerdigung, die ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem bürgerliche Kirchenkreise und die nationale politische Rechte zusammentreffen, darstellt.
Nach seinem Abitur beginnt er 1926 ein Jura-Studium in Berlin, weil er darin die Möglichkeit sieht, auf das Recht als den Grundpfeiler jedes Staates Einfluss im Sinne seiner ideologischen Einstellungen zu gewinnen. Er versteht die Rechtsprechung als politisches Machtinstrument. Er schlägt somit eine bildungsbürgerliche Karriere ein.
Seit 1926 ist Wessel Mitglied der NSDAP. Die Partei und speziell der SA-Sturm, dessen Führer er wird, bieten ihm eine Art Ersatzfamilie. Wessel und viele andere Mitglieder sehen sich dem „deutschen Sozialismus“ angehörig und lehnen Internationalismus und Klassenkampf ab. Außerdem vertreten sie Werte wie Disziplin, Ordnung und Standhaftigkeit und teilen den Eindruck, die angeblich positive Kriegserfahrung der Vätergeneration versäumt zu haben und von der krisengeschüttelten Republik um die Zukunft betrogen zu sein.
Die Mitgliedschaft in der NSDAP ist für Wessel wichtiger als sein Studium. Während seines Auslandssemesters 1928 in Wien immatrikuliert er sich nicht, sondern widmet seine Zeit der Hitlerjugend (HJ). Er baut in Berlin-Friedrichshain den SA-Sturm 5 auf und organisiert als dessen Führer ständig Aktivitäten: Aufmärsche in von Kommunisten beherrschten Vierteln, Schlägereien, Landpropagandafahrten, Umzüge mit Musikkapellen als „Aktionspropaganda“. Obwohl er mehrmals bei der Polizei aktenkundig wird, hat diese kaum Macht und Mittel, Straßenkämpfe zu verhindern oder deren Teilnehmer zu belangen. Im Frühjahr 1929 bricht Wessel schließlich sein Studium ab und lebt von Gelegenheitsarbeiten.
Seine exponierte Stellung unter den SA-Sturmführern zeigt sich unter anderem darin, dass er eine größere Selbstständigkeit und mehr Freiheiten besitzt und zusätzlich auch Funktionär der NSDAP ist. 1929 agitiert er als beliebter NS-Redner und spricht auf insgesamt 56 Versammlungen in Berlin, womit er nach Dr. Joseph Goebbels am häufigsten als Redner auftritt. Zu diesem unterhält Wessel einen regen Kontakt.
Seit Herbst 1929 meidet Wessel allerdings wegen seiner neuen Freundin Erna Jaenichen zunehmend die SA und ihre Treffpunkte. Am 22. Dezember 1929 stirbt sein Bruder Werner bei einem von Nationalsozialisten organisierten Winterausflug. Wer dafür verantwortlich ist, wird nicht aufgeklärt. Dieses Ereignis sorgt bei Wessel für einen Nervenzusammenbruch, er erlebt eine Lebenskrise. Die Mitglieder seines Sturms akzeptieren ihn immer weniger als Sturmführer und Wessel stellt zu dieser Zeit vermutlich Überlegungen über einen Lebenswandel an.
Am 14. Januar 1930 schießt der vorbestrafte Kommunist Albrecht Höhler Wessel in den Mund. Die Gründe dieser Tat sind bis heute umstritten, vermutlich haben sowohl persönliche Streitigkeiten als auch politische Motive dazu geführt. Wessel stirbt am 23. Februar 1930 an Blutvergiftung.
Horst Wessel wird zu einem Märtyrer der NS-Bewegung stilisiert und zentrale Figur des nationalsozialistischen Totenkultes. Dies zeigt sich bereits bei seiner Beerdigung am 1. März 1930, welche einer Propagandaveranstaltung der NSDAP gleicht: Dr. Goebbels hält eine Rede, die SA steht Spalier, der Oberste SA-Führer Franz Pfeffer von Salomon, Hermann Göring und Prinz August Wilhelm von Preußen sind anwesend und es werden Filmaufnahmen gemacht. Im „Gau Berlin“ wird eine 14-tägige Trauer angeordnet. Abgesehen davon wird an diesem Tag auf der ersten Seite des „Völkischen Beobachters“ unter der Überschrift „Horst Wessels Gruß an das kommende Deutschland“ das von Horst Wessel verfasste Lied abgedruckt:
Laut der NS-Propaganda sei Horst Wessel wegen seines bedingungslosen Eintretens für die völkische Bewegung und somit für die nationale Wiedergeburt feige durch Kommunisten ermordet worden. Dies hilft den Nationalsozialisten, ihr Vorgehen in der Endphase der Weimarer Republik (1930-1933) zu legitimieren und sich als „Vorkämpfer für Recht und Ordnung“ zu präsentieren.
Im März 1930 nennt Dr. Goebbels Wessel einen „Christussozialisten“. Er sei ein nationalsozialistischer Christus, der sein Leben für die Volksgemeinschaft geopfert habe.
Genutzt wird der Wessel-Mythos vor allem, um Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu erreichen und ihnen ein Vorbild zu geben. Ab 1933 finden deshalb Horst Wessel und sein Lied Aufnahme in die Lehrpläne der Schulen, um die nationalsozialistischen Werte, speziell die völkische Weltanschauung, die kämpferische Lebensführung und die selbstlose Opferbereitschaft zu veranschaulichen und so die Schüler zu indoktrinieren. Abgesehen davon wird Wessel besonders im protestantisch-nationalsozialistischen Milieu als NS-Märtyrer gesehen, was dazu führt, dass viele protestantische Bürger und Pfarrer der SA beitreten.
Geprägt wird der Horst-Wessel-Kult durch Gedenkfeiern, Zeitungsartikel und Rundfunksendungen. Zudem wird sein Lied bei Parteifeiern der NSDAP, in Schulen und NS-Jugendorganisationen und in der Kirche gesungen. Deutschlandweit werden zahlreiche Denkmäler für ihn errichtet und öffentliche Gebäude, Straßen, Plätze und SA-Einheiten nach ihm benannt. Der wichtigste Gedenkort stellt Wessels repräsentativ hergerichtetes Grab auf dem Nicolai-Friedhof in Berlin dar.
Wessels Schwester Ingeborg und seine Mutter Margarete werden im Zuge des Wessel-Mythos zu Ikonen mit Vorbildcharakter überhöht, Margarete Wessel als Ideal der „deutschen Mutter“ inszeniert und als opferbereite Frau mit unerschütterlicher Siegeszuversicht dargestellt. Beide tragen den Kult um Horst Wessel immens mit, sie erscheinen zu offiziellen Gedenkveranstaltungen und Ingeborg gibt mehrere Bücher über ihren Bruder heraus.
Im Herbst 1932 erscheint der von Hanns Heinz Ewers verfasste Roman „Horst Wessel“ über sein Leben. In diesem Roman wird sein letztes Lebensjahr als moderne Passionsgeschichte inszeniert. Von den völkischen Rechten wird er mit Jubel aufgenommen, ansonsten stößt er auf Ablehnung. Auch der Kinofilm „Hans Westmar. Einer von vielen. Ein deutsches Schicksal aus dem Jahre 1929“ von 1933 zeigt Horst Wessels Leben als Nationalsozialist und seine Ermordung.
Versuche der Aufklärung des überhöhten Kultes durch linke Intellektuelle wie beispielsweise Bertolt Brecht scheitern.
Während des Zweiten Weltkrieges (1939-1945) wird Wessel durch die nationalsozialistische Propaganda als Vorbild für junge Wehrpflichtige zu einem Freiwilligen bzw. einem Weltkriegsteilnehmer verklärt. Der Wessel-Kult wird stärker antisemitisch und antisowjetisch. So heißt es nun, dass Horst Wessel angeblich von Handlangern des internationalen Judentums erschossen worden sei. Seit der sich deutlich abzeichnenden Kriegsniederlage nach der Schlacht von Stalingrad 1942/43 verliert der Mythos um Horst Wessel an Plausibilität und Popularität, es finden deutlich weniger Kundgebungen und Kranzniederlegungen statt.
Nach dem Überfall auf Horst Wessel wird Albrecht Höhler von der Polizei gefasst und legt ein Geständnis ab. Er verrät dabei seine kommunistischen Mittäter.
Vom 22. September bis zum 26. September desselben Jahres findet der erste Horst-Wessel-Prozess statt. Das allgemeine Interesse der Öffentlichkeit für diesen Prozess ist hoch. Die Angeklagten Albrecht Höhler und einige Mittäter werden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Auffallend ist, dass damit härtere Strafen verhängt werden als bei vergleichbaren Prozessen gegen Nationalsozialisten.
Während des Dritten Reichs werden die Angeklagten illegal durch SA und Gestapo ermordet bzw. in Konzentrationslagern interniert, weil das Strafmaß den Nationalsozialisten nicht ausreicht. Aus diesem Grund kommt es 1934 zu einem zweiten Horst-Wessel-Prozess, der zur Demonstration der nationalsozialistischen Macht und zur Einschüchterung der politischen Gegner dient. Vom 12. bis zum 15. Juni 1934 werden Randbeteiligte des Überfalls als Mittäter wegen Mordes angeklagt und zu langen Haftstrafen verurteilt. In zwei Fällen wird die Todesstrafe verhängt.
Erst am 9. Februar 2009 werden die Verurteilungen schließlich posthum durch die Berliner Staatsanwaltschaft aufgehoben.
Das gemeinsame Grab von Horst Wessel und seines Vaters Wilhelm Wessel in Berlin wird nach 1945 neu gestaltet, indem alle Erinnerungen an Horst Wessel getilgt werden und somit nur das Grab des Vaters fortbesteht.
Text: Stadtarchiv Rottweil
Gailus, Manfred/Siemens, Daniel (Hrsg.), „Hass und Begeisterung bilden Spalier“ – Die politische Autobiographie von Horst Wessel, Be.bra-Verlag Berlin 2011.
Siemens, Daniel, Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, Siedler Verlag München 2009.
Kurzke, Hermann, Hymnen und Lieder der Deutschen,Dieterich Verlag Mainz 1990. Verein der Ehemaligen und Freude des Albertus-Magnus-Gymnasiums (Hrsg.), Festschrift. Das Rottweiler Gymnasium in Geschichte und Gegenwart. Beiträge zur Geschichte der gymnasialen Bildung in Rottweil, Rottweil 2008.