Ein Werkzeug, die Gegenwart zu verstehen und einzuschätzen – unter dem Titel „Zukunft der Vergangenheit“ sprach am 1. März der Freiburger Ordinarius für Klassische Philologie Bernhard Zimmermann am Albertus-Magnus-Gymnasium über die Rolle der Alten Sprachen und der antiken Literatur in den gesellschaftlichen und politischen Diskursen unserer Zeit. Sein Vortrag im Festsaal der Gymnasien stand im Zentrum des „Europatages“, den das AMG in diesem Jahr nach längerer Pause traditionsgemäß wieder beging.
Zimmermann begann seine Ausführungen mit einem Blick auf die Verhältnisse in den USA und Großbritannien, wo die „Classical Studies“ im geisteswissenschaftlichen Bildungssystem und auch in der medialen und politischen Öffentlichkeit stärker präsent sind als in Deutschland. So appellierte beispielsweise im März 2022 die New York Times an Präsident Biden, die Ukraine zu unterstützen, unter Berufung auf eine bekannte Äußerung des Thukydides, der in seiner „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ im 5. Jahrhundert vor Christus nüchtern resümierte, die Starken täten das, wozu sie die Macht hätten, und die Schwachen müssten das erleiden, wogegen sie sich nicht wehren könnten. Ein Überblick über die Moden, denen die humanistische Bildung der Moderne seit ihren Anfängen im deutschen Griechenkult des 19. Jahrhunderts unterworfen war, zeigte den Wechsel zwischen Wertschätzung und Distanz und die jeweils erfolgenden Neuausrichtungen, die in der Gegenwart z.B. die Alteritätsforschung, die Untersuchung des Verhältnisses zwischen der eigenen Gruppe und dem Anderen, elementar berücksichtigt.
Dabei ging Zimmermann auch auf die Probleme ein, mit denen die Altertumswissenschaften, oft aus eigenem Verschulden, konfrontiert wurden und werden: in Deutschland nicht zuletzt die „braune“ Altphilologie der NS-Zeit, in den USA die in jüngster Zeit heftig geführte Kontroverse über die Verstrickung der Altertumswissenschaften in Kolonialismus, Rassismus und Sklavenhalterei, die in Teilen auch dort zu einer Neuausrichtung des Faches geführt hat.
Spannend war auch ein Blick auf die Themen, die in den griechischen Dramen des 5. Jahrhunderts vor Christus verhandelt werden: Neben Bereichen wie Anderssein oder Krieg thematisieren Aischylos, Sophokles und Euripides z.B. Geschlechterrollen, Flucht, Immigration und Asyl, aber auch den Umgang mit Tyrannei, Gewissen und Zivilcourage und bieten damit einen Spiegel für das 20. und 21. Jahrhundert.
Die Schüler der Klassen 8 bis KS 2 folgten den Ausführungen Zimmermanns aufmerksam. In einer abschließenden Runde stand der Referent den Fragen von Neuntklässlern Rede und Antwort. Auch hier ging es wieder um die Themen der Zeit: die Rolle und Gestalt Europas, die Auseinandersetzung mit dem Krieg, das Verhältnis der Geschlechter. Auf die letzte Frage einer Schülerin aus dem Plenum, welches denn der größte Fehler der Antike gewesen sei, gab Zimmermann eine nur allzu richtige Antwort: die Hybris des Menschen, seine Unfähigkeit, die eigenen Grenzen zu sehen und einzusehen.
Dr. Thomas Ehlen